Wenn Politik wahnhafte Züge annimmt

Spiegel-Redakteur Jürgen Leinemann liest im Winsener Kulturcafé “nebenan”

Von Aneka Schult

WINSEN. In Celle geboren, über Burgdorf und Lehrte ins Spiegel-Büro nach Washington. Seine Interviews sind legendär. Jüngst las Autor Jürgen Leinemann im Café “nebenan” in Winsen aus seinem neuesten Buch “Höhenrausch: Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker.
“Als ich in Washington ankam brannten die Ghettos nach der Ermordung von Martin Luther King, dann kam Watergate, Vietnam”, erzählte der langjährige Spiegel-Redakteur aus seinem Leben und bot Auszüge seiner kritischen Sicht auf die Politik.

Der Aufhänger: Noch nie war Politikverdrossenheit derart weit verbreitet, noch nie war das Ansehen der Politiker so katastrophal. Eine Antwort auf die Frage: “Haben die Politiker den Kontakt zur Wirklichkeit verloren?” heißt für Leinemann “Sucht”. Dabei weiß er, wovon er spricht, nicht nur als einer der besten Kenner der deutschen Politik und ihrer Hauptakteure. Er hat selbst erfahren, wie das Phänomen Sucht funktioniert, wie man langsam die Bodenhaftung verliert. Auch er erlag dem Sog der Gier nach Anerkennung und Bedeutsamkeit, diagnostizierte bei sich “wahnhafte Züge”. “Ich litt unter meiner fehlenden Distanz”.

Berauschend können neben den üblichen Drogen eben auch Arbeit und öffentliche Wirkung sein. Leinemann wurde schließlich kuriert, sah plötzlich klar: “Je länger ich trocken war, desto besoffener kam mir die Welt vor.” Die gesellschaftliche, mediale, politische.

Zwar sei Politik nicht besonders labil, aber gefährdet. Ihren Galionsfiguren drohe eine “unentwegte Überforderung”. Gerade den Karrieristen. Früher besaßen die Politiker eine Art “inneres Geländer”. Dieser Realitätsbezug sei bei heutigen Berufspolitikern einer Wahrnehmungsstörung gewichen. “Sehstörung” hat Bundespräsident Johannes Rau die Folge der “Droge Politik” genannt. Uwe Barschel und Jürgen Möllemann brachte sie den Tod. Eine Ersatzwirklichkeit stellt das Fernsehen bereit. Hier können sich die Politik-Junkies an ihrer eigenen Bedeutung berauschen.

Der Träger des Egon-Erwin-Kisch-Preises beleuchtet in seinem Buch vorwiegend Politiker von den Nachkriegsjahren bis zur Gegenwart, die er während seiner vierzig Jahre in Washington, Bonn und Berlin beobachtet hat. Sympathien und Antipathien weicht er nicht aus. Zwar brauche Altbundeskanzler Schröder keine Freunde. Einen aber hat er gewiss. Eine interessante Lesung mit vielen ernsthaften Publikumsfragen.

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